Persönlichkeiten der Demokratie
Demokratie steht synonym für Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Menschenrechte und Gewaltenteilung. Auch wenn wir heute in Deutschland keine andere Staatsform kennen, ist Demokratie als staatliches System in der Geschichte nicht immer selbstverständlich. Unsere heutige Art zu leben, Kultur und Gesellschaft verdanken wir Persönlichkeiten, die sich aktiv und passiv für die demokratischen Wertevorstellungen eingesetzt haben. In der online Serie „Persönlichkeiten der Demokratie“ stellt das Stadtarchiv bekannte und unbekannte Personen vor, die durch ihr Handeln und Wirken beispielshaft die Demokratie in Biberach gefördert haben. Alle Portraits zusammen sollen uns den historischen Facettenreichtum von Demokratie innerhalb der Stadt Biberach aufzeigen.
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Bild: Stadtarchiv Biberach © (c) Stadtarchiv Biberach
Wilhelm Leger
Wilhelm Leger (1894-1964) war der erste gewählte Biberacher Bürgermeister in der Nachkriegszeit. Von den Biberacher Bürgern wurde er mit fast 100% der Stimmen gewählt. Während der Zeit des Nationalsozialismus galt er „als weltanschaulicher Gegner“ des Regimes. Wegen Wehrkraftzersetzung und Beleidigung wurde Leger 1944 in Untersuchungshaft genommen und entging nur knapp einer strafrechtlichen Verurteilung durch das Oberelandesgericht Stuttgart. Bei den Biberachern war Leger sehr beliebt, weil er sehr bürgernah war und für jeden Bürger ein offenes Ohr hatte. Mit seiner Arbeitsphilosophie „Vorwärts und Aufwärts“ gelang ihm der schnelle wirtschaftliche, gesellschaftliche und infrastrukturelle Wideraufbau der Stadt Biberach. Aufgrund Wilhelm Legers Engagements siedelte sich die Firma Liebherr in der Stadt an. Am 2. März 1964 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse sowie der Biberacher Ehrenbürgerschaft ausgezeichnet. Am 19. Juni 1964 verstarb Wilhelm Leger nach langer schwerer Krankheit.
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Bild: Stadtarchiv Biberach
Dr. Erika Frank
Dr. Erika Franz-Teßmann (1921-2015) wurde 1956 mit einer sehr großen Mehrheit als erste und lange Zeit einzige Frau in den Gemeinderat Biberach gewählt. Auch privat sowie beruflich galt Dr. Erika Frank als moderne emanzipierte Frau. Erika Frank studierte Medizin in Breslau und Frankfurt/Main. 1960 eröffnete sie ihre eigene Praxis in #Biberachanderriss. Für ihr herausragendes politisches, soziales und gesellschaftliches Engagement erhielt sie 1982 das Bundesverdienstkreuz und 1984 die Bürgerurkunde der Stadt Biberach. Auch wenn sie 1998 nach Überlingen zog, besuchte Erika Frank jedes Jahr, bis zu ihrem Tod 2015, das Biberacher Schützenfest.
Dr. Erika Franz-Teßmann (1921-2015) wurde 1956 mit einer sehr großen Mehrheit als erste und lange Zeit einzige Frau in den Gemeinderat ... -
Fortuneé Niederer
Fortuneé Niederer geb. d´Albepierre (1801-1876) war eine Schulreformerin aus der Schweiz, die sich aktiv für die Frauenbildung einsetzte und Schulleiterin der ersten „Höheren Töchter Schule“ in Biberach war. Sie wurde in eine Zeit hineingeboren, in welcher Bildung nicht für jeden zugänglich war. Besonders Frauen waren sehr lange Zeit vom Zugang zur höheren Bildung und zum Hochschulstudium an den Universitäten ausgeschlossen. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts in der Schweiz und Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, mit dem Aufkommen der höheren Töchterschulen, Töchterinstituten, Pensionaten etc. konnte eine Veränderung im Bereich der Frauenbildung in Europa beobachtet werden. Johann Heinrich Pestalozzi gründete 1813 in Yverdon ein Töchterinstitut, welches seit 1814 von Rosette Niederer-Kasthofer und später auch von ihrem Ehemann Johannes Niederer geleitet wurde.[1] Rosette Niederer-Kasthofer gilt als Pionierin in der Mädchenbildung. Anders als andere Pädagogen verfolgte sie nicht das Ziel die Mädchen für das spätere Leben als Ehefrau und Mutter vorzubereiten, sondern beabsichtigte mit ihrer idealen Mädchenbildung, eine mündige und später berufstätige Frau zu fördern.[2]
Eine der 15 Schülerinnen, welche am Töchterinstitut in Yverdon aufgenommen wurde, war Fortuneé Niederer geb. d´Albepierre.[3] Nach dem Tod ihres Vaters 1814 übernahmen Rosette Niederer-Kasthofer und Johannes Niederer die Vormundschaft über Fortuneé.[4] Später heiratete Fortuneé den Neffen ihres Pflegevaters. Der aufklärerische Einfluss und die bildungspolitischen Ansichten zur Mädchenbildung von Rosette Niederer-Kasthofer prägten Fortuneé in ihrem privaten und beruflichen Lebensweg nachhaltig. Nach ihrer Ausbildung zur Lehrerin in Yverdon unterstützte sie ihre Pflegeeltern bei der Führung des Mädcheninstituts, leitete das Töchterinstitut in Lugano und baute später in Zürich und St. Gallen eine gutgehende Töchterschule auf.[5]. Am 20. Oktober 1860 kam Fortuneé nach Biberach, um das neu gegründete private Institut für höhere Töchter zu leiten. Die höhere Töchterschule, auch später Nieder´isches Institut genannt, wurde auf Initiative einiger Biberacher Väter, die dem neuen Wirtschaftsbürgertum angehörten, gegründet, um ihren Töchtern eine höhere Bildung zu ermöglichen.[6] Die neuen pädagogischen Ansichten hinsichtlich der Mädchenbildung, welche Fortuneé vertrat, spiegelten sich eindeutig im Stundenplan wider. Der Stundenplan umfasste nicht nur Fächer wie Französisch oder Hauswirtschaft, die für die Mädchenbildung im 19. Jahrhundert typisch waren, sondern auch geisteswissenschaftliche wie Geschichte.[7]
In der Zeit als Fortuneé das Institut leitete, kam es immer wieder zu Konflikten mit der Stadt und den angestellten Lehrern.[8] Die Stadt selbst nahm von Anfang an eine eher ablehnende Haltung gegenüber der Person Fortuneé und der „Höheren Töchterschule“ ein, obwohl das Institut einen sehr guten Ruf bei der Prüfungskommission und den Eltern hatte. Sie wurde öffentlich bezüglich ihres Lebenswandels von einer nichtbekannten Person angeprangert und drohte daraufhin mit dem Rücktritt. Eine Eskalation des Konfliktes konnte nur vermieden werden, da die Eltern der Schülerinnen eine Ehrenerklärung abgaben.[9] Auf Grund der organisatorischen Entwicklung der Schuleinrichtung, die Schule wurde unter städtische Aufsicht gestellt und der Zuspitzung der bestehenden Konflikte mit der städtischen Administration, reichte Fortuneé ihre Kündigung 1871 ein und zog nach Zürich.[10] Auch nach ihrem Weggang von Biberach setzte sich Fortuneé, trotz ihres hohen Alters, aktiv für die Mädchenbildung ein. In Zürich baute Fortuneé zusammen mit anderen Lehrerinnen ein Mädchenpensionat auf und lebte dort bis zu ihrem Tod 1876.
[1] Vgl. Dejung, Emanuel (Hrsg.), Johann Heinrich Pestalozzi. Sämtliche Briefe. Band 9 Briefe aus den Jahren 1813 bis 1815 (Nr. 3491-4146), Zürich, 1968, S. 423.
[2] Vgl. Leimgruber, Yvonne, In pädagogischer Mission: die Pädagogin Rosette Niederer-Kasthofer (1779-1857) und ihr Wirken für ein „frauengerechtes“ Leben in Familie und Gesellschaft, Bad Heilbrunn, 2006, S. 10-15.
[3] Vgl. Dejung, Emanuel (Hrsg.), Johann Heinrich Pestalozzi. Sämtliche Briefe. Band 10 Briefe aus den Jahren 1816 bis 1817 (Nr. 4147-4866), Zürich, 1968, S. 526.
[4] Vgl. ebd.
[5] Vgl. ebd.
[6] Vgl. De la Roi-Frey, Karin, Biberacher Männer und die höhere Mädchenbildung, in: Heimatkundliche Blätter H 3 1996, S. 86-90, hier: S. 86f.
[7] Vgl. Stundenplan der Höheren Töchterschule 1864, Stadtarchiv Biberach E Bü 1637.
[8] Vgl. Schreiben Lehrer Spiegler vom 2.10.1869 an den Elternausschuss, Stadtarchiv Biberach E Bü 1637.
[9] Vgl. Ehrenerklärung der Eltern, Stadtarchiv Biberach E Bü 1637.
[10] Vgl. Kündigungsschreiben Fortuneé Niederer vom 16.04.1871, Stadtarchiv Biberach E Bü 1637.
Fortuneé Niederer geb. d´Albepierre (1801-1876) war eine Schulreformerin aus der Schweiz, die sich aktiv für die Frauenbildung einsetzte und Schulleiterin ... -
Bild: FRANK HALL © Film
Fritz Erler
Fritz Erler (1913-1967) – Widerstandskämpfer, politischer Reformer, Demokrat und SPD-Politiker mit Weitblick
Bild: FRANK HALL © Film
US-Verteidigungsminister Robert McNamara (rechts) im Gespräch mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Fritz Erler (links) und Westberlins Regierendem Bürgermeister Willy Brandt (SPD) am 13. April 1965 in Arlington, Virginia, USA, „Zum Grundgesetz stehen, das heißt, die Demokratie verteidigen, ausbauen und jeden Anschlag auf die demokratischen Rechte abzuwehren […]“1 Fritz Erler war nicht nur einer der bedeutendsten SPD-Abgeordneten der 1950er und 1960er Jahre, sondern auch der erste Biberach Landrat nach dem Zweiten Weltkrieg.
Erler wurde 1913 in Berlin geboren und trat mit 15 Jahren in die Sozialistische Arbeiterjugend ein.2 Während der Zeit des nationalsozialistischen Terrorregimes engagierte Erler sich in der sozialdemokratischen Widerstandsgruppe „Neubeginn“. Im Herbst 1938 wurde die Gruppe zerschlagen und Erler in einem Gerichtsprozess zu zehn Jahren Haft verurteilt. Auf einem der sogenannten Todesmärsche in das Konzentrationslager Dachau gelang Erler in Bayern die Flucht.3 In Oberschwaben tauchte Erler bis nach der Befreiung durch die französische Armee unter. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges engagierte er sich zunächst einmal als Dolmetscher und in der Verwaltung, da eine direkte politische Betätigung in den ersten Monaten nach Ende des Krieges nicht möglich war. 1945/46 verfasste Erler verschiedene Artikel in der Schwäbischen um sich zu politisch wichtigen Themen wie die Integration von Flüchtlingen eindeutig zu positionieren und auf diesem Weg die Demokratisierung der Bevölkerung zu unterstützen.
Im Januar 1946 wurde Erler zum ersten Biberacher Landrat ernannt und setzte sich nun direkt für den Wideraufbau und die demokratische Erneuerung im Landkreis Biberach ein. Auf Grund seiner pragmatisch orientierten Arbeitsweise kam es immer wieder zu Konflikten zwischen ihm und den französischen Machthabern. Erler kam im März 1946 für vier Monate in Haft, weil er einem Deserteur zu einer Kennkarte und Arbeit im Landkreis Biberach verholfen hatte, dieser jedoch straffällig wurde und ihn daraufhin denunzierte.4
Nach seiner Haftentlassung berief ihn Carlo Schmid zum Vorsitzenden einer Kommission zur Säuberung und Reorganisation der Innen- und Finanzverwaltung in Tübingen. 1949 wurde Erler für die SPD in den ersten Bundestag gewählt.5 Bekannt wurde Erler durch seine harte Linie bezüglich der von der Entnazifizierungsinstanzen eingestuften Mitläufer, die sich politisch beteiligen wollten. In einer Rede vor dem Bundestag bemerkte Erler: „Wer mitläuft, kann nicht führen.“6 Fritz Erler setzte sich bis zu seinem Tod für die Demokratie ein, prägte die politische Linie der SPD in der Nachkriegszeit nachhaltig und trug entscheidend zur Bildung der großen Koalition CDU/SPD bei. Am 22.02.1967 starb er in Pforzheim.
1 Soell, Hartmut, Fritz Erler, politische Biographie, Berlin, 1976, S. 328.
2 Vgl. Abraham, Hartwig, Fritz Erler, Landrat in Biberach 1945/46, in Heimatkundliche Blätter (1990/1), S.38-41.
3 Vgl. Fritz Erler (1913-1967) Widerstandskämpfer und Vordenker der Sozialdemokratie (https://www.hausaufderalb.de/fritz-erler, zuletzt aufgerufen am 18.12.2024).4 Vgl. Abraham, Fritz Erler, S. 40.
5 Vgl. ebd.
6 Kittel, Manfred, Die Legende von der „Zweiten Schuld“: Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer, Berlin, 1993, S. 71.Fritz Erler (1913-1967) – Widerstandskämpfer, politischer Reformer, Demokrat und SPD-Politiker mit Weitblick
„Zum Grundgesetz stehen, das heißt, die Demokratie verteidigen, ...